Auch wenn die regierenden Mächte sich geschickt dabei anstellen, den Anschein aufrechtzuerhalten, sie genössen monolithische Unterstützung, bleibt „das Volk“ doch eine diverse und gespaltene menschliche Landschaft; meist besitzt es keine Stimme und ist den Kontrollmechanismen der Herrschenden ausgeliefert, ob diese gewählt wurden oder nicht. Nirgendwo erkennt man das deutlicher als in Russland, betrachtet man die Lage dort aus der Sicht von Victoria Lomasko. Ihre Zeichnungen und an Comics erinnernden Texte, die wie auf die ganze Gesellschaft ausgeweitete Skizzen aus dem Gerichtssaal anmuten, bieten ergreifende Alltagsszenen mit Charakteren sehr unterschiedlicher Segmente einer sich wandelnden Gesellschaft – was sie verbindet, ist, dass sie allesamt keine politische Stimme besitzen. In dieser für den steirischen herbst in Auftrag gegebenen Installation rahmt Lomasko diese unsichtbaren und entmächtigten Menschen im Stile einer postsowjetischen Religiosität – deren früheste Darstellungen an sozialistische Kulturpaläste erinnern – mit rituell benutzten Möbeln aus billigem Sperrholz und ikonenhaften Propagandaplakaten. In Intercession on Karl Marx Street werden Bilder von Heiligen und Erlösern durch eine diverse, wenn nicht gar gespaltene Gesellschaft von Wahrgläubigen ersetzt: LGBTIQ-Aktivist*innen, Häftlingen, migrantischen Arbeiter*innen, Kinder-Prostituierten, abgestumpften Intellektuellen und ernsten Künstler*innen. Lomaskos Blick ist stets ein einfühlsamer, ob sie den faschistischen Häftling zeichnet, der durch versteckte Hakenkreuze in einem Renaissance-Raphael seine Weltsicht bestätigt findet; die muslimische Frau und ihr Kind, die fürchten, dass gezeichnet zu werden etwas Gotteslästerliches sei; oder die Mitglieder von Pussy Riot, deren Prozess die Künstlerin bis ins zermürbende Detail dokumentierte.
Volksfronten
Victoria Lomasko
Intercession on Karl Marx Street (2018)
Installation
21.9.–14.10.
Kulturzentrum bei den Minoriten
Mariahilferplatz 3
8020 Graz
Google Maps
Freier Eintritt mit
Festival-Pass
In Auftrag gegeben und produziert von steirischer herbst
Victoria Lomasko (1978, Serpukhov, Russland) ist Grafikerin und Illustratorin, deren Arbeiten (die oft in Buchform erscheinen) den Alltag und die politischen Kämpfe der Bürger*innen in den postsowjetischen Ländern und in Zentralasien dokumentieren, wobei sie sich vor allem mit Frauen aus unterschiedlichen sozialen Verhältnissen beschäftigt. Sie lebt in Moskau.