Volksfronten

VOLKS
FRONTEN

Willkommen an den Fronten
Ekaterina Degot

Der Titel des Kernprogramms des diesjährigen steirischen herbst lautet Volksfronten. Der Titel – absichtlich im Plural und stets auf Deutsch – ist ebenso verstörend wie ambivalent. Viele Besucher*innen, und nicht nur die deutschsprachigen, werden angesichts des Wortes „Volk“, das dunkle Erinnerungen heraufbeschwört, die Stirn runzeln oder gar erschaudern. Dieses vermeintlich unschuldige Wort markiert den langsamen Wandel, der sich im frühen 20. Jahrhundert in Deutschland und Österreich vollzog: Vom bürgerlichen Verständnis des „Volkes“ hin zu seiner rein ethnischen und rassischen Iteration, die den Aufstieg des Nationalismus und Faschismus begünstigte und propagierte. Aus genau diesem Grund beschloss in den 1990er-Jahren eine aus den USA stammende rechtsextreme Organisation, sich Volksfront International zu nennen. Allerdings machte sie sich den Wortbestandteil „-front“ – das breit aufgestellte antifaschistisch-sozialistische politische Bündnis linker Kräfte der 1930er-Jahre, die front populaire – auf perverse Weise zu eigen. Durchaus post-radikal (immerhin musste selbst die Kommunistische Internationale eine vorübergehende Einstellung der Weltrevolution bewilligen) behielt die Volksfront gegenüber dem Faschismus ihre unerschütterlich militante und kompromisslose Einstellung solange bei, bis sie schließlich von einer anderen Koalition betrogen wurde – nämlich vom deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von Molotow und Ribbentrop aus dem Jahr 1939, in dessen Folge die Volksfront, gerade noch rechtzeitig, durch Parolen des friedlichen Zusammenlebens ersetzt wurde.

Staatliche Propagandamaschinen, zunehmende Fremdenfeindlichkeit, Antiflüchtlingspolitik und die Mitschuld der – sich stets „berechtigt“ fühlenden – Bevölkerung an jenen Strukturen, die ihre Privilegien aufrechterhalten, erzeugen heutzutage weltweit erstaunliche und alarmierende Déjà-vus, die an die 1930er-Jahre erinnern. Hinterlistige Formen von rassischer oder ethnischer Segregation – getarnt als Integration – oder Kontrollsysteme und Manipulationen – ausgegeben als Social-Media-Freizeitspaß – werden normalisiert und entpolitisiert. Längst sind sie vereinbar mit privaten Freiheiten und einer „modernen“ Lebensweise. Eine einheitliche Front, die gegen diesen sich ausbreitenden Faschismus aufsteht, gibt es anscheinend nicht. Stattdessen kämpfen wir an vielen kleineren Fronten und verhandeln eine Vielzahl an Anliegen, meist kultureller Natur. Und dort werden wir dann in zunehmendem Maße mit der Idee des einen oder anderen „Volkes“ konfrontiert, welches scheinbar Anspruch auf die eigenen Traditionen, Nationalgefühle und religiösen Überzeugungen hat – ein Anspruch, der nicht durch „die Anderen“ in Frage gestellt oder gestört werden darf. Während wir also damit beschäftigt sind, die Unterschiede zwischen uns anzuerkennen, sind wir zugleich nicht mehr fähig, einen gemeinsamen Schauplatz zu finden oder uns einen gemeinsamen Kampf vorzustellen. Zweifellos hat die Diffamierung und der Niedergang des Sozialismus als Realpolitik, mit seinem idealistischen kommunistischen Horizont, in den 1990er-Jahren zu dieser Fragmentierung beigetragen.

The Sound of Music, Hollywoods Fantasie von Österreich, das Laibach in diesem Jahr für den steirischen herbst wieder aufgreift, demonstriert, wie eine scheinbar antitotalitäre und antifaschistische Kritik möglicherweise selbst dafür sorgt, dass derselben faschistischen Hydra ein neues Haupt wächst. Die Geschichte, die sich Hollywood einkaufte (und erfolgreich vermarktete), handelt vom kleinen, patriotischen und Edelweiß-gläubigen Österreich, das sich den radikalen Nazis widersetzt, die in ihren Augen nichts weiter als einen Herrschaftswillen haben. Es handelt sich um ein Narrativ des Kalten Kriegs, demzufolge der Nazismus eine Variante des gefährlichen Internationalismus ist – dem Kommunismus nicht unähnlich – und Nationalismen durch ihren angeblichen Kampf um Unabhängigkeit legitimiert werden. Das gegenwärtige politische Klima in Mittel- und Osteuropa, an dessen Grenze sich Graz befindet, veranschaulicht sehr gut, wie eine solche Legitimation ein Wespennest aus „unseren kleinen Faschismen“ erschaffen hat, um an dieser Stelle den Titel eines Clusters von Interviews und Debatten zu nennen, das Teil des diskursiven Ideen–Programms von Volksfronten ist.

Das vom Festivalteam kuratierte Kernprogramm der diesjährigen Ausgabe des steirischen herbst erkundet diese Thematiken vor dem Hintergrund einer erweiterten Gesamtausstellung, die als solche an zahlreichen Orten der Stadt verstanden und erfahren werden kann. Einige ihrer Elemente sind Installationen, andere Performances und wieder andere Symposien oder Podiumsdiskussionen, die unter dem zusammenfassenden Titel Ideen stehen; sie alle sind genaue Setzungen im größeren Parcours, räumlich und zeitlich.

Es gibt einen entschiedenen Fokus auf das Lokale, das von einer verstörenden und teilweise verdrängten Geschichte geprägt und überschrieben ist. Viele der Beiträge zu Volksfronten sind neu vom steirischen herbst in Auftrag gegeben und beschäftigen sich mit urbanen und regionalen Narrativen. Sie zeigen neue Wege auf, soziale Räume der Stadt zu bewohnen und sich in die Geschichten zu vertiefen, die sie vielleicht erzählen. Die Arbeiten thematisieren, wie sich die Politik des 20. Jahrhunderts in die Struktur der Stadt und Region eingeschrieben hat, und konzentrieren sich auf das zuweilen skurrile Verhältnis eben dieser Politik mit globalen Prozessen sowie Geschichten „von anderswo“. Die behauptete Normalität einer globalen Ordnung erweist sich hier als surreal und unheimlich.

Gemeinsam bilden die Arbeiten ein größeres, umfassenderes Narrativ, dessen Bestandteile sich sowohl auf der Karte von Graz als auch im Festivalkalender miteinander verbinden. Auch wenn es nicht eine einzige richtige Vorgehensweise gibt, dieses Narrativ zu erkunden, so ist es dennoch von Vorteil, mehrere Projekte in der Zusammenschau zu sehen; nicht voneinander isoliert, sondern im Dialog, ja sogar im Widerstreit.

Der steirische herbst verfolgt eine kritische Agenda und unterstützt Praktiken, die sich sowohl selbst als auch andere engagieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Festival ein Podium für Alternativpolitik ist. Vielmehr versucht es jedes Jahr aufs Neue, die Stadt in eine Bühne zu verwandeln, auf der das einzigartige fantasievolle Potenzial der Kunst zur Gänze sichtbar wird – ihre Fähigkeit, zügellose Geschichten zu erzählen und ihre Gestalt zu ändern, unmögliche Mutmaßungen anzustellen und poetische Scherze zu treiben, Räume zu erobern und unsere Imagination zu besetzen.
 

Das Kernprogramm der 51. Ausgabe des steirischen herbst wird von einem Kollektiv kuratiert. Es besteht aus Ekaterina Degot, Intendantin und Chefkuratorin; Henriette Gallus, Stellvertretende Intendantin; Christoph Platz, Leiter der Kuratorischen Belange; Övül Ö. Durmusoglu, Katalin Erdödi und Dominik Müller, Kurator*innen; David Riff, Kurator für Diskurs; Jill Winder, Chefredakteurin; Birgit Pelzmann und Johanna Rainer, Assistenzkuratorinnen; und Georg Schöllhammer, Berater für übergreifende Fragen.